In letzter Zeit erinnere ich mich des Öfteren an das Spätjahr 2011 zurück, als alles begann. Ende November, Anfang Dezember traten die ersten Symptome und Beschwerden bei mir auf und ich wunderte mich mehr und mehr, was plötzlich mit mir los war.
Um die Schwierigkeiten verständlich zu beschreiben, die sich vor allem bei jüngeren Parkinson-Patienten bei der Diagnosefindung oftmals ergeben, hole ich etwas aus und beschreibe in diesem Post den Verlauf meiner Erkrankung von den ersten Anzeichen bis hin zur Verdachtsdiagnose ´Morbus Parkinson´ im November 2013.
Als erste Ansprechpartnerin suchte ich damals meine Hausärztin auf. Sie überprüfte z.B. die Muskulatur meines Rückens und der Arme und gab mir ein Kärtchen eines Fitnessstudios in die Hand, in dem die Kunden ihrer Meinung nach sehr gut betreut würden. Heute ist natürlich klar, dass sie nicht wirklich eine Chance hatte, die wahre Ursache meiner Probleme herauszufinden. Denn wer denkt bei einem 29-Jährigen, der wegen Schulter- und Nackenverspannungen in die Praxis kommt, schon an einen Morbus Parkinson!? Zur Senkung der erhöhten Muskelspannung hat sie mir Tetrazepam verschrieben. Davon habe ich aber, das muss ich zugeben, nie eine Tablette geschluckt. Zu groß waren meine Bedenken, dass mich das Zeug womöglich umhauen könnte.
Als die Schmerzen und meine Einschränkungen in den nächsten Wochen immer größer wurden, habe ich mich in ein Münchener Schmerzzentrum überweisen lassen, wo ich orthopädisch und neurologisch durchgecheckt wurde. Auch hier waren meine Beschwerden klar zu sehen, aber niemand konnte deren Ursache ausfindig machen. Selbst zwei MRT-Aufnahmen (Schädel und HWS/obere BWS) blieben ohne pathologischen Befund. Also überwies man mich weiter. Diesmal in eine neurologische Tagesklinik, wo weitere Tests und auch eine Lumbalpunktion durchgeführt wurden. Leider wieder mit dem selben Ergebnis: Nichts zu finden.
Daraufhin bot mir der Oberarzt, der mich dort behandelte, als quasi letzte Option an, mich in eine Tagesklinik für Schmerzdiagnostik und Schmerztherapie zu überweisen, die wenige Schritte entfernt lag und zur selben Klinikgruppe gehörte. Klinisch-neurologisch gebe es keine Untersuchungen mehr, deren Durchführung in meinem Fall noch sinnvoll sei. In der Schmerz-Tagesklinik gehe es eher darum, für mich geeignete Theapieformen auszuwählen und diese Einheiten dann regelmäßig wahrzunehmen. Angeboten wurden z.B. Entspannungsübungen, Massagen, Ergotherapie, Physiotherapie und psychologische Einzel- bzw. Gruppengespräche.
Spätestens jetzt musste ich einsehen, dass man mit einer ambulanten Schmerztherapie lediglich noch versuchen konnte, meine Schmerzen so gut wie möglich zu lindern und meine Lebensqualität somit wieder ein wenig zu verbessern. Und selbstverständlich musste ich mich fragen lassen, ob es sein konnte, dass meine Beschwerden nicht durch körperliche Probleme hervorgerufen wurden, sondern Ausdruck ungelöster psychischer Konflikte sein könnten. Eigentlich hatte ich diese Möglichkeit ziemlich weit von mir gewiesen. Es gab zwar zu dieser Zeit durchaus psychische Stressoren, mit denen ich etwas zu kämpfen hatte. Aber ich hielt mich und meine mentale Verfassung nicht für so verwundbar, als dass ich mir eine so heftige Reaktion meines Körpers hätte vorstellen können.
Nachdem ich mich in der Schmerzklinik vorgestellt und Rücksprache mit meinem damaligen Arbeitgeber gehalten hatte, nahm ich das Angebot schließlich an. Von August bis November 2012 bin ich immer mittwochs in die Klinik geradelt und habe dort die vereinbarten Anwendungen besucht. Immerhin mit dem Ergebnis, dass ich ab dem Tag, an dem ich die erste Massage erhielt, keine spannungslösenden Schmerzmittel mehr für die Schultern gebraucht habe. Der Nutzen der anderen Therapien war allerdings recht überschaubar. Ich wurde zwar unter anderem von zwei jungen und sehr netten Ergo- bzw. Physiotherapeutinnen behandelt, meine Probleme mit der Fein- und Zielmotorik des rechten Arms und der Finger der rechten Hand hatten sich nach Abschluss der Therapien Anfang November aber nicht nennenswert gebessert.
Am Abschlussgespräch, das ich mit meiner behandelnden Ärztin führte, nahm auch die Psychologin teil, mit der ich mittwochs jeweils 45 Minuten gesprochen hatte. Da alle organmedizinischen Untersuchungen ohne Ergebnis geblieben seien und da es bei mir im Verlauf der letzten Jahre scheinbar zu einigen psychischen Konfliktsituationen gekommen sei, seien sich die beiden einig, dass in meinem Fall eine sog. Dissoziative Bewegungsstörung des rechten Armes (F 44.4) vorliege. Als medizinisch-psychologische Nachsorgeempfehlungen werden im Abschlussbericht der Klinik unter anderem ein "Stationärer Aufenthalt in einer Fachklinik für Psychosomatische Medizin" und eine "Integration der erlernten Schmerzbewältigungsstrategien und der eingeübten Entspannungsmethoden in den persönlichen Ablauf des Patienten" empfohlen.
Nun saß der Ralle da in seinem Stühlchen, hörte den beiden Damen aufmerksam zu und hatte nicht wirklich ein Gegenargument, das er der Diagnose der beiden Fachfrauen entgegenbringen konnte. Obwohl er in seinem tiefsten Innern noch immer große Zweifel hatte, ob mit dieser Diagnose bereits das letzte Wort gesprochen war. Denn eigentlich hatte der Ralle schon immer ein gutes Gespür für seinen Körper gehabt und irgendetwas sagte ihm, dass dieses Abschlussgespräch unter sechs Augen noch nicht das Ende war.
Aber alles Gespür half nichts. Für den Moment hatte ich mich zu fügen und sah mich vor meinem inneren Auge schon einen mindestens sechswöchigen Aufenthalt in einer Psychosomatischen Klinik antreten. Doch mit welchen Hoffnungen und Aussichten auf Besserung würde ich in eine solche Klinik gehen, wenn seit einem Jahr sämtliche Untersuchungen und Therapien ohne Ergebnis bzw. ohne Erfolg geblieben sind? Psychologische Einzelgespräche hatte ich ja bereits während der Schmerztherapie mit einer Diplom-Psychologin geführt. Und diese Gespräche hatten unter anderem einige Ereignisse der vergangenen Jahre zum Thema, die sich möglicherweise negativ auf meine Psyche ausgewirkt haben könnten und die man im Rahmen eines stationären Aufenthalts sicher weiter hätte vertiefen können. Aber ehrlich gesagt konnte ich mir kaum vorstellen, dass ausschließlich diese psychischen Stressoren für meinen damaligen Zustand verantwortlich waren. Und falls doch, wie wollte man meinen Zustand innerhalb von sechs Wochen nachweisbar verbessern? Denn das wäre ein sehr kurzer Zeitraum, wie ich fand, um etwas zu beeinflussen, was sich (vermutlich) innerhalb von zwei, drei Jahren in meine Seele eingebrannt haben musste.
Um es einmal klar gesagt zu haben: Mir fehlte schlichtweg der Glaube, dass sich meine Beschwerden im Rahmen einer rein psychosomatischen Therapie auch nur ansatzweise gebessert hätten. Egal, wie lange und intensiv ich stationär und anschließend ambulant weitertherapiert worden wäre.
Rückblickend haben sich meine Zweifel und mein Gespür als angebracht und richtig erwiesen. Man hat, nachdem alles vieles organische überprüft und ausgeschlossen worden war, bei mir eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Das hat mir damals sehr zu denken gegeben. Denn es ist zwar durchaus so, dass meine Psyche und mein inneres Ich manchmal etwas wankelmütig und leicht zu beeinflussen sind. Trotzdem behaupte ich von mir, dass ich innerlich relativ standhaft und gefestigt bin, wenn es darum geht, sich gegen negative und belastende äußere Einflüsse zur Wehr zu setzen. Dass aus dem Ralle nun sozusagen der Psycho-Ralle gemacht wurde, hat mich stark an mir zweifeln lassen. Natürlich ist eine psychische Erkrankung nichts, wofür man sich schämen muss oder etwas, das den Wert eines Menschen verringert. Psychisch Kranke haben weder einen ´an der Klatsche´, noch einen ´Dachschaden´. Aber ich habe mich schon gefragt, wer oder was mich seelisch womöglich so sehr belastet, dass mein Körper derart krass mit manifesten neurologischen Ausfallerscheinungen darauf reagiert.
Ich möchte den Ärzten und sonstigen Therapeuten, die mich bis zum Abschluss der Schmerztherapie untersucht und behandelt hatten, keinen Vorwurf machen. Darum geht es mir nicht. Sie haben viele Untersuchungen gewissenhaft und gründlich durchgeführt und mich gut beraten. Und sie hatten, wenn sie nichts mehr für mich tun konnten, immer gute und sinnvolle Vorschläge parat, was der jeweils nächste Schritt sein könnte. Aber es gibt da eine Frage, über die ich seit einiger Zeit nachdenke und auf die ich bislang keine Antwort gefunden habe. Eine Frage, die den Psycho-Ralle ein klein wenig zum Aggro-Ralle werden lässt. Denn ich glaube, man hätte durchaus schon früher herausfinden können, was mir wirklich fehlt.
Zur Erklärung ein kurzer Rückblick: Ende November 2012 bin ich zurück in die Pfalz gezogen und habe mir dort eine niedergelassene Neurologin gesucht. Sie hat mich regelmäßig gesehen und mir vom Frühsommer 2013 an regelmäßig Ergotherapie verordnet. Nebenher habe ich versucht, den Empfehlungen der Schmerzklinik Folge zu leisten und habe bei der Deutschen Rentenversicherung eine stationäre, psychosomatische Reha beantragt. Als zunächst die Rehamaßnahme an sich und später auch mein Widerspruch abgelehnt wurden, mussten wir uns eine neue Strategie zurechtlegen. Als eine der wenigen Möglichkeiten, die noch vorhanden waren, fiel meiner Neurologin die Kopfklinik der Universität Heidelberg ein. Zuerst war ich etwas skeptisch und glaubte nicht so recht daran, dass eines Tages doch noch irgendjemand eine organisch greifbare Ursache meiner Beschwerden finden würde. Aber im Nachhinein hat sich ihre Idee als goldener Schuss erwiesen, weshalb ich ihr (und auch den Heidelbergern) sehr dankbar bin für alles, was sie für mich getan hat bzw. haben.
Wer nun eins und eins zusammenzählt, kennt die Frage, die mich seit Mitte November 2013 beschäftigt: Wieso bedurfte es eines fähigen Oberarztes der Uniklinik Heidelberg, der mich ca. 15 Minuten untersuchte, meine Anamnese (mündliche Patienten-Vorgeschichte) erfragte und dann die Vermutung äußerte, dass es sich in meinem Fall möglicherweise um einen Morbus Parkinson handeln könnte? Klar, die Heidelberger Kliniken haben einen exzellenten Ruf und immerhin war ich in einer Spezialambulanz für Bewegungsstörungen zu Gast. Aber trotzdem kann ich mir kaum vorstellen, dass man mir in München nicht ebenso hätte weiterhelfen können. Daher frage ich mich schon, wieso mich damals niemand in die dortige Universitätsmedizin überwiesen hat, und warum auch ich selbst nicht auf die Idee gekommen bin. Erfahrene, fähige Ärzte und Dinge wie ein DAT-Scan und ein IBZM-Spect gibt es in der Weltstadt mit Herz auch, gar keine Frage.
Ich habe gehört, man nennt die Multiple Sklerose die ´Krankheit mit den 1000 Gesichtern´. Wenn die MS mit 1000 Gesichtern daherkommt, sind es beim Morbus Parkinson mindestens ein paar Hundert. Behauptet der Kümmelspalter. Denn das Problem an dieser Erkrankung ist, dass es zu Beginn häufig zu sehr unspezifischen Symptomen kommt. Dazu zählen z.B. Muskelverspannungen und Schmerzen im Bereich der Schultern und des Nackens, Haltungsinstabilitäten, eine Bewegungseinschränkung und -verarmung, schlaffe Lähmungen der Finger, Depressionen und einige andere Beschwerden. Gerade bei jungen Patienten unter 60, 70 Jahren denken Ärzte und Angehörige daher zunächst oft an andere mögliche Erkrankungen und es kommt zu Fehldiagnosen. Aus der Rheumatologie und der Orthopädie fallen mir gerade der Morbus Bechterew und der Bandscheibenvorfall ein.
Mein junges Alter war scheinbar mein persönliches Pech. Aber trotz allem habe ich nochmal Glück gehabt, denke ich. Es gibt Patienten, die viel längere und größere Ärzteodysseen hinter sich gebracht und ihre richtige Diagnose bspw. erst nach vier oder fünf Jahren erhalten haben. Das zeigt zum einen, wie wichtig es ist, die diagnostischen Möglichkeiten, die heutzutage verfügbar sind, bei Bedarf voll auszuschöpfen und im Zweifelsfall frühzeitig Spezialisten hinzuzuziehen. Zum andern zeigen Fälle wie meiner auch, dass in der Medizin nichts so unmöglich ist, wie es zunächst scheint. Diese Erfahrung habe ich nun an mir selbst gemacht.
Vielleicht kann ich mit meinem Blog ein wenig dazu beitragen, dass anderen Betroffenen solche Odysseen in Zukunft erspart bleiben und die Öffentlichkeit den Morbus Parkinson mit all seinen möglichen Erscheinungsformen nicht mehr nur als Erkrankung des gehobenen Alters wahrnimmt.